Über Emilie Goldberger

Über Emilie Goldberger

Berta Zuckerkanld. Painting of Vilma Elisabeth by Parlaghy Brochfeld (1886, public domain)
Berta Zuckerkandl. Gemälde von Vilma Elisabeth von Parlaghy Brochfeld (1886, gemeinfrei)

“Emilie Goldberger: Meine Klavierlehrerin, eine ehemalige Schülerin von Anton Rubinstein, eine sehr kleine, zerbrechliche, ältere Dame” – so erzählt es Émile Zuckerkandl (1922–2013), Enkel der großen Wiener Salonière Berta Zuckerkandl (1864–1945).[1] Bislang ist dies die einzige Beschreibung, wie Emilie Goldberger ausgesehen haben könnte. Mehr ist zum jetzigen Zeitpunkt (August 2023) nicht bekannt. Und das kann auch noch nicht der Fall sein: Seit Jahren beschäftige ich mich mit historischen Augsburger Tageszeitungen, und nicht nur mit Musikgeschichte – bei der Lektüre einer dieser Zeitungen im Februar 2023 blieb mein Blick an einem Konzertbericht hängen, in dem der Name Emilie Goldberger vorkam und mir nichts sagte.

Ich googlete. Der allererste Treffer war ein historisches Dokument. Eine Sterbeurkunde[2] aus dem Ghetto Theresienstadt, mit einem Geburtsdatum: 17. November 1858 – das gleiche Jahr wie die große Komponistin Ethel Smyth (gest. 1944). Mit einem Sterbedatum: 20. September 1942. Emilie Goldberger war 83 Jahre alt, als sie – wie ich durch erste Recherchen herausfanden – mit vielen anderen aus dem Jüdischen Altenheim Seegasse in Wien erbarmungslos abgeholt, am Aspangbahnhof in einen Viehwaggon gesperrt und auf die lange Reise ins Ghetto Theresienstadt geschickt wurde.[3]

Clara-Schumann-Studentin

83 Jahre. Was mag sie erlebt haben? Durch akribische Recherchen habe ich einige berühmte Namen der Musikgeschichte entdeckt, die in Emilie Goldbergers Leben eine Rolle spielten. Nicht nur auf die von Anton Rubinstein (1829–1894), Anton Door (1833–1919), den Violinistinnen Anna von Suppè (1876–1923) und Berta Haft (1857–1931),[4] sondern auch auf die von Clara Schumann (1819–1896). Emilie Goldberger war eine ihrer Schülerinnen in ihrem allerersten Jahr an Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt am Main.[5] Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man eine Clara-Schumann-Schülerin wiederentdeckt.

Ich war begeistert und hatte innerhalb von drei Tagen nicht nur alle österreichischen Zeitungen nach Emilie Goldberger durchsucht, sondern auch andere europäische Zeitungen, so dass sich nach und nach Emilie Goldbergers Konzert- und Unterrichtstätigkeit sowie ihr Repertoire und ihre Paradestücke herauskristallisierten. In ihren vier Jahren auf Tournee lebte, spielte und unterrichtete sie auch in Paris. Ein weiterer Hinweis könnte verraten, dass sie Kompositionsschülerin von Johannes Brahms (1833–1897) war.[6]

Nachlass

Augsburger Abendzeitung, No. 122. Wednesday May 4th 1881. Screenshot © Susanne Wosnitzka
Augsburger Abendzeitung, No. 122. Mittwoch 4. Mai 1881. Screenshot © Susanne Wosnitzka

Jetzt hatte ich einen Rahmen, um ihr Leben einigermaßen nachvollziehen zu können. Von Emilie Goldberger ist bislang nichts überliefert außer einem handschriftlichen Brief, den mir Sabine Falke (ehemals Klavierfabrik Ibach) freundlicherweise als Scan zur Verfügung stellte. Nach ihrer Deportation in das Ghetto Theresienstadt ließ die NS-Behörde ihre Wohnung und ihr Eigentum räumen. Die Tatsache, dass es darin ein Originalmanuskript eines Liedes von Franz Liszt (1811–1886, siehe Repertoire) gegeben haben könnte, das heute auf mysteriöse Weise als verloren gilt: bemerkenswert!

Sie sehen: Die kleine Konzertnachricht aus Augsburg entwickelte sich geradezu explosionsartig zu einer großen Geschichte. Anhand einer Timeline versuche ich, Ihnen die Geschichte von Emilie Goldberger zu erzählen, die noch sehr unvollständig ist – mehr habe ich noch nicht. Ich müsste in Wien, Paris, Theresienstadt und anderen Orten, an denen sie gelebt oder gesommert hat, weiter recherchieren. Da sie fast überall auch Klavierunterricht angeboten hat, könnten ihre Schüler:innen vielleicht auf diese Weise wieder zugänglich werden. Vielleicht gibt es noch Aufzeichnungen über Emilie Goldberger. Eine Fotografie konnte ich noch nicht finden. Aber es wäre schön, wenn Emilie Goldberger wieder ein ‘Gesicht’ bekommen könnte.  Sie lebte unverheiratet, verdiente ihr eigenes Geld und konnte deshalb reisen und ihrer Musik so unabhängig wie möglich nachgehen.

Grundlagenarbeit

Zunächst erstellte ich aus meiner Materialsammlung ein 11-seitiges Leporello mit den Stationen von Emilie Goldbergers Leben und Wirken erstellt. Das ist die Grundlage für die Timeline auf dieser Webpräsenz, in der Hoffnung, dass vielleicht jemand, der mehr über Emilie Goldberger weiß, auf sie aufmerksam wird. In Frankfurt am Main konnte man meine Fragen im Jüdischen Museum nicht beantworten. Auch das Archiv Frau und Musik in derselben Stadt war ratlos. Entsprechende Anfragen in Wien sind bisher unbeantwortet geblieben.

Aufgrund anderer Projekte und Verpflichtungen musste ich das Goldberger-Projekt vorerst auf Eis legen, dachte aber oft daran. Allein meine Stoffsammlung sprengte den Rahmen eines normalen Blogbeitrags auf meiner Website. Deshalb musste ein anderes Konzept her, um besonders die Timeline besser darstellen zu können. Diese ist zwar lang, aber wenn man nach bestimmten Namen sucht, findet man alles auf einer einzigen Seite. Solange die Forschung noch nicht abgeschlossen ist, ist eine Website wie diese gleichsam eine Dokumentation.

Eine wissenschaftliche Publikation über Emilie Goldberger ist in deutscher Sprache bereits erhältlich (Hg. Sabine Meine/Kai Hinrich Müller, Königshausen & Neumann 2024) auf Englisch in Vorbereitung, Stand: Juni 2024). Daraus können dann auch Enzyklopädie- und Online-Lexikoneinträge für eine noch weitere Verbreitung erstellt werden. Da die Print-Ausgabe eine Zeichenbegrenzung hatte, ist die Webseite wesentlich detailreicher, und diese interessanten Details, die oft wichtige Querverbindungen darstellen, sind allesamt belegt, sodass auch mit dem Online-Wissen gearbeitet werden kann.

Vorausschau

Schön wäre es auch, wenn Emilie Goldbergers Wirken und Sein mit diesen Wissensgrundlagen besonders in Wien wieder Sichtbarkeit erführe. So ließen sich zum Beispiel am ehem. Jüdischen Altersheim Seegasse die dort vorhandenen Steine der Erinnerung (österreichisches Pendant zu den Stolpersteinen von Gunter Demnig) um einen für Emilie Goldberger erweitern.

Wenn Sie mir dabei helfen möchten, weitere Puzzlestücke aus Emilie Goldbergers Leben zu finden oder wenn Sie mehr über sie wissen möchten, oder wenn Sie jemanden kennen, der weitere Details kennen könnte, dann schreiben Sie mir bitte! All das mache ich derzeit in meiner Freizeit.

Einzelnachweise
[1] Vgl. Thomas Trenkler: Das Zeitalter der Verluste. Gespräche über ein dunkles Kapitel, Wien 2013, Gespräch mit Émile Zuckerkandl (hier ohne Seitenangabe, abgerufen am 16. Juni 2024).
[2] Vgl. Institut Terezínské iniciativy: Emilie Goldberger, Sterbematrik 6796, abgerufen am 16. Juni 2024.
[3] Vgl. Arolsen Archives: Deportationsliste Wien–Theresienstadt, Blatt 23, 20. August 1942, Nr. 908 Goldberger Emilie S., abgerufen am 16. Juni 2024.
[4] Berta Hafts Lebensdaten und Familienumstände waren bis zu diesen Forschungen unbekannt. Bibliothekar Bernd-Christoph Kämper, den ich in meine Recherchen eingeweiht hatte, entdeckte sie wieder. Vgl. www.familysearch.org: Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde, 1784–1911, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Mikrofilm, abgerufen am 16. Juni 2024. Berta Haft war eine Cousine Emilie Goldbergers.
[5] Vgl. Jahresbericht 1878/79 Dr. Hoch’s Konservatorium Frankfurt a. M., 1.1878/79, S. 5.
[6] Vgl. Johannes Beer: Johannes Brahms, vom Ratgeber zum Kompositionslehrer. Eine Untersuchung in Fallstudien. (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung 6), Kassel 2010, S. 118.